Wenn ich mit Freunden und Kollegen spreche, höre ich immer wieder, dass sie nicht strukturiert eingearbeitet und ausgebildet werden.
Oft gibt es nicht mal auf dem Papier ein Einarbeitungs- oder Rotationskonzept, und wenn es doch eines gibt, dann fliegt es spätestens dann in die Luft, wenn unerwartet jemand im Team krank oder schwanger wird. (also alle zwei Wochen…)
Friss oder stirb
Klar, wenn man jemanden in einen Teich wirft, dann zeigt sich ganz schnell, ob er Schwimmen lernt oder untergeht.
Nur ist es in der Medizin eher ein in die Länge gezogenes Gerade-so-nicht-Ertrinken mit wildem Gepaddel.
Und die meisten schwimmen sich dann ja auch irgendwann von alleine frei.
Es dauert halt Monate bis Jahre und macht keinen Spaß.
Ich erinnere mich an ein Blockpraktikum im Studium, in dem ein Oberarzt uns einen wichtigen Tipp fürs berufliche Leben mitgeben wollte:
„Klappe halten, Augen nach unten und in 20 Jahren wieder hochgucken.”
Äh, nein danke. Ich will schnell gut werden UND (meistens) pünktlich gehen. Yep, Mitglied der Generation Y hier und dazu noch Ansprüche!
Und da bringt es mir nichts, wenn ich mich jahrelang nur gerade so über Wasser halte und alles eher durch Zufall lerne.
Wenn du darauf auch keine Lust hast, musst du direkt mit einem Jetski ins Wasser springen.
Wo ist mein Sensei?
Am besten wäre es natürlich, wenn man einem erfahrenen Arzt fest zugeteilt wäre. Eine altmodische Schüler-Meister-Beziehung sozusagen, in der man geschützt lernen kann und ständig Feedback bekommt.
Das wird leider nur selten so sein.
Die meiste Zeit wirst du selbst dafür sorgen müssen, dass du die wichtigen Dinge lernst.
Wie kannst du es nun schaffen, aus dem Alltag ein Maximum an Lerneffekt herauszuholen? Oder wie kannst du eine neue Fähigkeit (fast) alleine erlernen?
Dazu müssen wir erstmal klären, bei welchen Fähigkeiten sich der Aufwand überhaupt lohnt.
Erst zielen, dann schießen
Es bringt nichts, voller Elan in irgendeine Richtung loszulaufen, und zu hoffen, dass man schon ein ansprechendes Ziel erreichen wird. (Außer wenn man in einer fremden Stadt etwas Neues entdecken will, dann ist es eine super Strategie!)
Also stelle ich mir folgende Fragen (mit meinen Beispielantworten):
Was brauche ich täglich, was ich noch nicht (oder nur unzureichend kann)?
Da ich irgendwann mal klinische Notfallmedizin machen möchte, ist das z.B. Sonographie in allen ihren Facetten (Abdomen, Herz, Lunge, venöse und arterielle Zugänge, irgendwann Muskeln/Sehnen, Skelett und Gelenke)
Was werde ich bald brauchen, z.B. wenn ich in einen anderen Bereich komme?
Echokardiographie
Was fordert die Weiterbildungsordnung?
Da es noch keinen Facharzt für Notfallmedizin gibt, muss ich irgendwie 500 Abdomen-Sonos schaffen (für Innere). Das passt gut in meinen Plan.
Auf was habe ich richtig Lust?
Sono, auf jeden Fall!
Ist es überhaupt möglich, auf genug Übung zu kommen?
Ich werde es z.B. kaum schaffen, praktisch die Sonodiagnostik von akuten rupturierten Aortenaneurysmen zu „üben”. Hier kann aber Visualisierung und Simulation helfen, dazu kommen wir später.
Einige Beispiele für Basis-Fähigkeiten, die die Kriterien meist erfüllen werden:
- Innere Medizin: EKG, Sonographie
- Chirurgie: Nahttechniken, Thoraxdrainage
- Neurologie: neurologische Untersuchung, Auswertung von cCTs
Es ist für dich sicher leicht, eine entsprechende Fähigkeit zu finden, die deiner Fachrichtung und deinem Ausbildungsstand entspricht, oder?
Nun hast du eine Fähigkeit ausgesucht, von der du weißt, dass sie dir wirklich etwas bringt und du hast auch Lust darauf, sie zu lernen.
Idealerweise bringt es dir auch etwas auf dem Weg zum Facharzt und die Gelegenheit zum Üben ergibt sich häufig genug.
Der nächste Schritt ist ein Übungsplan. Manchmal kann man während der Arbeit spontan üben, manchmal muss man dafür extra Zeit aufwenden.
Deshalb ist es so wichtig, etwas auszusuchen, worauf man auch Lust hat.
Das Spiel mit den Lego-Steinen
Eine geniale Methode, um neue Fähigkeiten zu lernen, stammt von Tim Ferriss [note]aus dem Buch „The 4 Hour Chef” englisch/deutsch[/note] und hat den wohlklingenden Namen DiSSS-CaFE.
Für was steht also DiSSS-CaFE?
Deconstruction (= Herunterbrechen)
Was sind die kleinsten lernbaren Einheiten, die Lego-Blöcke sozusagen?
Selection (= Auswahl)
Welche 20% der Einheiten bringen mir 80% des Ergebnisses?
Sequencing (= Reihenfolge)
In welcher Reihenfolge sollte ich die Einheiten lernen?du
Stakes (= Wetteinsatz)
Was kann ich tun, damit ich den Plan auch durchführe?
Compression (= Verdichtung)
Kann ich die wichtigsten 20% auf einer Seite zusammenfassen?
Frequency (= Häufigkeit)
Wieviel Zeit kann ich zum Lernen aufbringen? Ist das oft genug, um die Fähigkeit zu erlernen?
Encoding (= Verschlüsselung)
Gibt es mentale Anker oder Tricks, wie ich die verschiedenen Schritte leichter erinnern kann? Das Akronym DiSSS-CaFE selbst ist ein Beispiel für einen Mnemo-Trick.
Do it like Tommy
Ein Beispiel aus der Musik (hier verwende ich nur DSSCF):
Wie kann ich das Gitarrenstück „Blue Moon” von Tommy Emmanuel lernen?
Hui, das spielt ein einzelner Gitarrist?
Wenn ich versuche, das Stück als Ganzes zu lernen, werde ich nach kurzer Zeit entnervt aufgeben, weil es einfach zu schwer ist.
Nun gibt der Meister selbst schon einen Hinweis auf die Struktur des Songs (ab Sekunde 27).
Wenden wir also mal die Methode an:
Deconstruction
Schaust du dir die Struktur des Songs genauer an, erkennst du vier Einheiten:
- einen unabhängigen Basslauf (vom Daumen gespielt)
- perkussive Elemente (durch das Schlagen auf die Saiten erzeugt)
- Füllnoten für den Rhythmus (vom Zeige- und Mittelfinger gespielt)
- eine Melodie (meist vom Mittelfinger gespielt)
Jetzt könnten wir diese Einheiten noch weiter herunterbrechen, aber für das Beispiel belassen wir es bei den vier Einheiten.
Selektion
Klar wäre es schön, das Stück sofort mit allen Verzierungen spielen zu können.
Mir würde für den Anfang allerdings auch eine einfache Version als Gerüst reichen, auf die ich später aufbauen kann
Ich wähle also die Melodie und die Basslinie aus und konzentriere mich zunächst nur auf diese beiden Einheiten.
Sequencing
Ich fange mit der Basslinie an und füge die Melodie hinzu.
Für mich ist es einfacher, die Melodie über den Bass zu „legen”, als den Bass „unter” eine Melodie zu spielen.
Hier ist die Basslinie alleine:
Hier ist die Melodie alleine:
Nun konzentriere ich mich darauf, beides zusammenzufügen:
Das klingt doch schon fast wie ein Lied!
Frequenz:
Ich übe diese beiden Teile und die Kombination täglich 5-10 Minuten lang, mehr geht natürlich auch.
Ein nächster Schritt wäre z.B. die Kombination der Basslinie mit der Perkussion.
Dann wieder die Melodie dazu.
Und so weiter.
Ich kann das Stück noch nicht komplett spielen und ich werde es nie so spielen können wie Tommy Emmanuel.
Aber ich habe jetzt ein Gerüst, auf dem ich aufbauen kann und mit dem das Üben Spaß macht!
Der Guru bist du selbst
Nichts anderes macht ein guter Lehrer mit dir!
Er sorgt für das Material, das Herunterbrechen in kleine Einheiten, die Reihenfolge und die Häufigkeit der Übung.
Er überwacht deine Technik und korrigiert Fehler sofort.
Außerdem sorgt er auch durch Lob für einen Teil deiner Motivation.
Es bleibt schwierig
Nun kommen wir zur Anwendung in der Medizin, wo wie immer alles etwas komplizierter ist:
Dein „Lehrer” hat meist keine Ahnung von Didaktik und gibt daher auch keine sinnvolle Struktur zum Lernen vor.
Das führt oft dazu, dass du nur komplette Abläufe gezeigt bekommst und dann auch durchführen sollst.
Ich z.B. bleibe dann oft am Anfang des Ablaufes hängen und bin frustriert. Der nächste Versuch beginnt wieder von vorne.
Deswegen solltest du deinen eigenen Lernplan im Kopf haben und durchziehen, solange jemand zur Korrektur hinter dir steht!
Beispiel Echokardiographie:
Du sitzt den ganzen Tag neben einem Profi und schaust zu.
90% der Messungen ergeben keinen Sinn für dich.
Wenn du dann ran darfst, versuchst du einen kompletten
Untersuchungsgang mit Dutzenden von Messungen durchzuführen.
Das ist viel zu komplex.
Der Lerneffekt ist sehr gering.
Wie geht es besser?
Deconstruction (= Herunterbrechen)
Wie könnte ein Untersuchungsgang aussehen, der gerade noch vollständig ist, und was sind die kleinsten lernbaren Einheiten?
- parasternal lange Achse
- parasternal kurze Achse
- Apikal Vierkammerblick und drehen bis Dreikammerblick
Selection und Sequencing (= Auswahl und Reihenfolge)
Du setzt dir für die nächste Gelegenheit ein Ziel: du willst nur einen der Schnitte einstellen können, und in diesem Schnitt nur die wichtigsten Messungen.
Alles andere ignorierst du.
Auf diesen Schnitt bist du vorbereitet und wenn du ran gelassen wirst, übst du nur diesen.
Nach einigen Wiederholungen verstehst du zumindest diese Einheit halbwegs.
Bei nächster Gelegenheit übst du den nächsten Schnitt und fügst vielleicht der ersten Einheit eine neue Messung hinzu.
Allzeit bereit
Manchmal weißt du gar nicht vorher, wann du wieder unter Aufsicht üben kannst.
Deshalb solltest du immer schon vorher wissen, welche Einheit du als Nächstes lernen willst.
Sonst geht der Moment vorüber, ohne dass du etwas herausgezogen hast.
Diesen Luxus hast du meist nur ganz kurz, wenn du etwas Neues lernst.
Mit dem 3er Golf an die Adria
Daher ist mein erstes Ziel immer, eine neue Fähigkeit erstmal auf eine Minimalversion zu reduzieren, solange ich noch ständig jemanden fragen kann.
Mit dieser Minimalversion, sozusagen dem klapprigen Golf 3, kommst du auch erst einmal von A nach B.
Allerdings solltest du bei jeder Fahrt versuchen, deine Aufmerksamkeit wieder auf eine kleine Einheit zu richten, in der du besser werden möchtest.
Um das obige Beispiel fortzuführen:
Du schaffst es irgendwann, dich durch einen Untersuchungsgang zu hangeln. Deine Ergebnisse müssen zwar kontrolliert werden, aber irgendwie geht es.
Nun gehst du wieder zurück zu einer kleinen Einheit, die du innerhalb dieses Ablaufes perfektionieren möchtest (z.B. detaillierte Betrachtung der Aortenklappe).
Auf diese Einheit bereitest du dich vor und kannst dann Nutzen aus der nächsten Gelegenheit zum Üben ziehen.
Du baust an deinen klapprigen Golf also super Felgen. Beim nächsten Mal dann vielleicht schon einen neuen Motor oder eine neue Karosserie.
Irgendwann steht kein Golf mehr da, sondern dein schnittiges Wunschgefährt.
Nun gehen wir mal davon aus, dass du ein paar kleine Lerneinheiten herausgesucht hast, die du als Nächstes angehen möchtest.
Teilweise wird das nur möglich sein, wenn sich die Gelegenheit im Arbeitsalltag zufällig ergibt.
Manchmal kannst du diese Einheiten aber auch losgelöst davon üben.
In diesem Fall ist es möglich sehr schnell besser zu werden! Darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.
Reflektiertes Üben (im Englischen „Deliberate practice”)
„I fear not the man who has practiced 10,000 kicks once, but I fear the man who has practiced one kick 10,000 times.”
„Ich fürchte nicht den, der 10.000 Tritte einmal geübt hat, ich fürchte den, der einen Tritt 10.000 Mal geübt hat.”
Bruce Lee
1993 erschien eine Veröffentlichung von K. Anders Ericsson, in der er schlüssig argumentierte, dass eine Weltklasseleistung hauptsächlich das Resultat von weltklasse-mäßigem Üben ist.[note]Quelle[/note]
Später schrieb er dann auch das populärwissenschaftliche Buch „Peak”[note]deutsch/englisch[/note], in dem er die Ergebnisse zusammenfasste.
Daraus folgt:
- Naturtalente gibt es nicht. Keiner kommt ohne Übung an die Weltspitze. Talent gibt nur einen Vorsprung, der oft dazu führt, dass derjenige überhaupt Interesse an intensivem Üben entwickelt. [note]Z.b. wurden Tiger Woods und Mozart von ihren Vätern schon im Kindergartenalter gedrillt und hatten im frühen Jugendalter schon zehntausende Stunden an Übung hinter sich.[/note]
- Die Qualität des Lernens ist mindestens genau so wichtig wie die Quantität.
Nun ist Weltklasselevel oft vielleicht gar nicht das, was du oder ich erreichen möchten.
Aber auf dem Weg zu „gut genug” ist es sehr hilfreich, mit den besten Werkzeugen zu arbeiten.
Was sind also die Kernelemente von reflektiertem Üben?
Gezieltes Lernen mit Aufmerksamkeit
Lernen soll nicht unbewusst und nebenher passieren, sondern du solltest dir sagen: „Jetzt lerne ich XY” (Das geht natürlich nicht den ganzen Tag lang, aber vielleicht schaffst du konzentrierte 30 Minuten, für Fähigkeiten, die dir wichtig sind?)
Als Ziel die Verbesserung einer Fähigkeit
Du musst wissen, welche Fähigkeit am Ende stehen soll. Sonst weißt du nicht, wann du angekommen bist.
Deinem aktuellen Können angepasst
Das was du übst, sollte etwas außerhalb deiner aktuellen Fähigkeiten liegen. Ist es zu einfach, dann fühlst du dich zwar gut, weil du nie Fehler machst, aber der Lerneffekt ist zu gering.
Ist es zu schwierig, dann hast du nie ein Erfolgserlebnis und kommst auch nicht weiter.
Die Möglichkeit unmittelbares Feedback zu erhalten
Du musst sofort wissen, ob du richtig oder falsch liegst.
Wiederholbar
Du musst dieselbe Handlung mehrere Male hintereinander durchführen können, damit du merkst, wie sich Veränderungen auswirken.
Auftragen, Polieren
Ein Beispiel aus dem Sport ist die Vorhand im Tennis.
Hier ist das Herunterbrechen anhand von DiSSS sozusagen schon eingebaut.
Wenn du immer nur komplette Spiele gegen andere spielst, dann wirst du in allen Aspekten des Spiels langsam besser werden.
Deine Vorhand wird auch nur langsam besser werden, da du im Spiel auf viele Dinge gleichzeitig achten musst.
Deshalb wird es im gezielten Training immer Zeiten geben, in denen der Trainer dir nur Bälle auf die Vorhand spielt und jeden Schlag sofort korrigiert.
Eine weitere Variante ist die Verwendung einer Ballschussmaschine. Nach 500 oder 1000 Vorhandschlägen an einem Tag wird die Bewegung viel tiefer im Unterbewusstsein eingebrannt sein.
Geheilte Türgriffe: 100, geheilte Patienten: 0
Ein klassisches Beispiel in der Medizin ist das Knotenknüpfen. Für dein Muskelgedächtnis ist es egal, ob am Ende des Fadens ein Mensch hängt oder ein Türgriff.
Kein Chirurg übt das Fadenknüpfen nur am Patienten!
Ein weiteres Beispiel ist das Befunden von EKGs (hier kann ich das Buch „Der EKG-Trainer” von Thomas Horacek empfehlen. Es eignet sich hervorragend für reflektiertes Üben. Du kannst die schlechten Bewertungen ignorieren).
Ein toller Kurs für Abdomensonographie, der viele der besten didaktischen Methoden umsetzt, findet in Düsseldorf statt.
Mit diesen Werkzeugen kannst du die Kontrolle über dein Lernen praktischer Fähigkeiten in die eigene Hand nehmen.
Wenn du das nicht tust, bestimmen andere oder der Zufall über deinen persönlichen Fortschritt!