Die Oma einer Freundin war vor einigen Jahren im Krankenhaus, ihr ging es nicht so gut. Mit diversen engagierten Medizinern in der Familie fühlten sich die behandelnden Ärzte zu Höchstleistungen angespornt.
Alle Vorerkrankungen wurden nochmal detailliert ausdiagnostiziert, vielleicht half es auch, dass die Dame privatversichert war.
Danach gab es noch die notwendigen Interventionen inklusive Optimierung und Erweiterung des Medikationsplans.
Nach ein paar Wochen ging es der Oma dann auch endlich besser und sie sollte eigentlich nach Hause gehen, dazu später mehr.
Nun ist es hoffentlich unser Anspruch, das Leben unserer Patienten nachhaltig besser zu machen.
Deshalb sind eindeutige Krankheiten mit simplen Lösungen auch so befriedigend zu bearbeiten.
Blinddarm entzündet → Blinddarm raus
Lungenentzündung → Antibiotikum
Schlaganfall → Lyse
etc.
Wir wissen, was zu tun ist und können helfen, im Idealfall sogar heilen.
Oft bewegen wir uns aber in einem ganz anderen Bereich.
Bringt es der multimorbiden Patientin wirklich etwas, wenn wir ihr zu ihren vier blutdrucksenkenden Medikamenten noch ein fünftes dazu geben?
Hat der 80-jährige Gefäßpatient am Ende etwas davon, wenn seine Leistenarterie zum zehnten Mal operiert wird?
Probleme umgekehrt betrachten - Inversion
Hättest du Carl Gustav Jacob Jacobi diese Fragen gestellt, hätte er sicher gesagt:
"Man muss immer umkehren!"
Halt, Moment, wer ist Carl Gustav Jacob Jacobi?
Carl Gustav Jacob war dieser stylische Dude und ein genialer Mathematiker des 19. Jahrhunderts. Seine Herangehensweise an komplizierte mathematische Probleme war, sie in umgekehrter Form auszudrücken und dann genauer zu betrachten.
"Was wäre, wenn das genaue Gegenteil meiner Annahme wahr wäre?"
Das nennt man Inversion, also Umkehrung (oder Umkehrfunktion)
Daher: "Man muss immer umkehren!"
Irgendwann haben schlaue Leute bemerkt, dass diese Herangehensweise nicht nur für mathematische Probleme funktioniert, sondern in fast allen anderen Lebensbereichen auch (und Inversion wird dann mentales Modell oder Prinzip genannt).
Warum hilft uns dieses Umkehren?
Zwei Arten Probleme zu lösen - Addition und Subtraktion
Wir tendieren dazu, Probleme immer durch Addition lösen zu wollen:
Was können wir zusätzlich machen oder hinzufügen, um das Problem zu lösen?
Stell dir vor, eine Katze schreit seit ein paar Nächten unter deinem Fenster und du findest keinen Schlaf.
Deine ersten Gedanken gehen vielleicht dahin, was du tun kannst, um sie zu vertreiben. Einen Schuh werfen oder vielleicht Wasser herunterkippen? Laut schreien oder eine Schreckschusspistole verwenden?
Vielleicht klappt das, aber wenn du Pech hast, landet der Schuh auf dem Balkon des Nachbarn und die Polizei bricht Nachts deine Tür auf, da du als potenzieller Amokläufer identifiziert wurdest.
Du hast die Situation mit deiner Problemlösung noch komplexer gemacht und das vorher gar nicht geahnt.
Nachdem dich die Polizei wieder freigelassen hat, willst du dich nur noch erholen. Aber die Katze schreit immer noch.
In einer Vision erscheint die Carl Gustav und flüstert "Man muss immer umkehren!"
Also tun wir das:
"Wie bekomme ich die Katze weg." → "Wie verhindere ich, dass die Katze überhaupt herkommt?"
Du findest im Hof dann vielleicht ein eingeklemmtes, halbtotes Junges oder einen Mülleimer voll mit Essensresten, beides lösbar, indem du sie aus der Situation herausnimmst (also Subtraktion).
Die Lösung lag also darin, etwas aus dem System zu entfernen und nicht, etwas hinzuzufügen.
Addition kann also recht einfach zu weiteren Problemen führen (durch Erhöhung der Komplexität im System). In der Medizin wäre das dann ein iatrogener Schaden.
Subtraktion reduziert Komplexität und führt eher nicht zu unerwarteten Problemen.
Ist nicht "sexy", aber verhindert etwas Dummes zu tun!
Darauf kommt man aber nur durch Inversion. Carl Gustav Jacob wäre stolz!
Via negativa - Der Weg des Weglassens
Nassim Taleb hat in seinem Buch "Antifragilität" das Konzept noch etwas knackiger als "Via negativa" bezeichnet, also den Weg des Weglassens (bzw. der Subtraktion). [note]Der Begriff stammt eigentlich aus der negativen Theologie, nach der man nur Aussagen darüber treffen darf, was Gott nicht ist. Darüber zu sprechen, was er ist, wäre Anmaßung.[/note]
Taleb fasst es so zusammen (paraphrasiert):
"In der Praxis nutzen die Profis, die sich natürlicherweise durchgesetzt haben, oft Subtraktion: Schach-Großmeister gewinnen, indem sie nicht verlieren; Menschen werden reich, indem sie keinen Bankrott erleiden (insbesondere dann, wenn andere Bankrott gehen); Religionen fußen hauptsächlich auf Verboten; Lebensweisheit besteht darin, zu wissen, was man vermeiden muss."
Beispiel 1:
Eine KHK kann durch das Weglassen eindeutig schädlicher Dinge, wie Rauchen, Übergewicht etc. besser "behandelt" werden, als durch Medikation (Medikamente bringen natürlich auch etwas und müssen sowieso gegeben werden, da kaum einer seinen Lebensstil ändern wird)[note]eine von diversen Quellen[/note]
Doch unser Trieb für Addition und Hinzufügen ist immens!
Beispiel 2:
Der CEO, der seiner Firma Millionengewinne ermöglicht ist ein Star. Derjenige, der die Firma während einer Wirtschaftskrise über Wasser hält, wird weniger beachtet.
Charlie Munger (Warren Buffets Partner bei Berkshire Hathaway) sagte diesbezüglich: "Es ist verrückt, was wir für einen langfristigen Vorteil erlangt haben, indem wir durchweg versuchen, nichts Dummes zu tun, anstatt sehr schlau zu sein."
Doch zurück zu unserer multimorbiden Hypertonikerin mit den vier Blutdrucksenkern. Geben wir ihr jetzt noch ein Medikament dazu, oder nicht?
Das Potenzial für Nebenwirkungen und Interaktionen ist sicher sehr hoch. Der potenzielle Nutzen ist sehr schwer zu beurteilen. Aber wie wahrscheinlich wird ein fünftes Medikament helfen, wenn vier andere es nicht taten?
Vielleicht ist die Via negativa der Weg, den du beschreiten solltest und du setzt sogar einige Medikamente ab.
Es gibt hier keine absolute Wahrheit, aber du solltest zumindest zur Abwägung fähig sein und das auch mit der Patientin besprechen können.
Immer noch aktuell - Primum non nocere
Du kennst sicher den hippokratischen Ausspruch "Primum non nocere", also "als erstes schade nicht."
Dass es im Original noch weiter geht, war mir lange nicht bewusst:
"Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare".
"Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen".
Puh, an dritter Stelle kommt erst das Heilen, wie langweilig!
Aber manchmal gibt es ja gute Gründe, wenn sich gewisse Grundsätze über Jahrtausende halten.
Die Rate an unerwünschten Ereignissen während einer Krankenhausbehandlung liegt zwischen 5 und 10 Prozent, je nach Datengrundlage.[note]www.gbe-bund.de/gbe10/f?f=Patientensicherheit_25879D[/note]
Unerwünschtes Ereignis: Ein schädliches Vorkommnis, das eher auf der Behandlung denn auf der Erkrankung beruht. Ob dem Patienten daraus ein Schaden entsteht, ist erst einmal egal.[note]https://www.aezq.de/patientensicherheit/definition-ps[/note]
Der Anteil von (schädlichen) Behandlungsfehlern liegt bei rund einem Prozent aller Behandlungsfälle, der Anteil von tödlichen Fehlern bei etwa 0,1 %.[note]Ein Riesenanteil machen die nosokomialen Infektionen, die man durch Subtraktion vermeiden kann, indem man aufhört, Keime auf die Patienten zu bringen. Die negativen Folgen der Lösung durch Addition/Hinzufügen von antibiotischer Behandlung werden uns dagegen noch lange beschäftigen.[/note]
Diese Schäden geschehen nur durch unser aktives Tun. Und aktiv etwas zu tun liegt nun einmal in unserer DNA.
Wir heilen! (Nicht: der Patient gesundet)
Und je nachdem wie akut und wie schwer jemand erkrankt ist, ist das ja auch richtig. Denn hier wäre der Schaden durch die Krankheit meist größer als irgendwelche Fehler die möglicherweise aus unserem Tun entstehen.
Aber was ist mit denen, die das medizinische System mit einem chronischen Problem ständig in Anspruch nehmen? Oder die, die vielleicht aus ganz anderen Gründen da sind?
Auch die setzen wir einer Mortalitätsrate von 0,1 % aus, nur dadurch, dass wir aktiv "Heilung" betreiben.
Es hilft nicht, dass sich die Fallpauschale nur durch aktives "Heilen" erhöht und nicht durch "Nicht schaden und vorsichtig sein".
Wenn du aber gute Medizin machen möchtest, ist es essenziell zu wissen, wann du dem Patienten durch dein Tun eher schadest.
Der erste Schritt ist, dass du "aggressives Zuwarten" überhaupt als Option in deine Werkzeugkiste aufnimmst.
Ein weiteres Werkzeug ist das Prä-mortem, über das du hier mehr lesen kannst, wenn du Zeit und Lust hast:
Das Prä-mortem
Oma ist nicht umsonst so alt geworden
Zum Abschluss noch einmal Nassim Taleb (paraphrasiert):
"Wir wissen deutlich mehr darüber was eindeutig schädlich ist, als was eindeutig nützlich ist. Wissen wächst durch Subtraktion von falschem (und schädlichem) deutlich mehr als durch Hinzufügen von (vermeintlichen) Wahrheiten - was wir heute als wahr betrachten, kann morgen schon wieder falsch (und schädlich) sein, aber was wir einmal als eindeutig schädlich erkannt haben, wird nur sehr schwer wieder nützlich."
Beispiel:
Rauchen wurde in den 60er Jahren als förderlich für die Lunge gesehen und sogar von Ärzten verschrieben. Irgendwann kam der Umschwung und wir wissen jetzt, dass Rauchen das Risiko für Lungenkrebs deutlich erhöht, also schädlich ist.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Rauchen irgendwann noch einmal als (gesundheitlich) nützlich angesehen wird.
Was geschah nun mit der Oma meiner Freundin? Nach der ausführlichen Diagnostik und Therapie durfte sie in gebessertem Zustand nach Hause.
Beim Ausräumen des Nachtschrankes bemerkten die Angehörigen, dass dort jede einzelne Tablette des Aufenthaltes gebunkert wurde.
Die alte Dame dazu: “Ich bin doch nicht blöd und schlucke einfach alles, was mir vor die Nase gestellt wird.”
Ja, es ist ein Einzelfall und ja, es gibt viele lebensnotwendige Medikamente, die man nicht wochenlang aussetzen sollte.
Aber manchmal ist die ärztliche Kunst auch die Fähigkeit zur Subtraktion[note]Medikamente auch einmal beherzt absetzen! (ärztezeitung.de)[/note] und es auszuhalten, einfach mal nichts (oder wenig) zu tun.
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